Jürgen Kisters
„Zedern im Tal / indigoblau / Nebeldunst.“
(Sekitei Hara)
„Alle Gestalten kommen / aus der Ungestalt / Ihre Wurzeln / sind aus Luft / In ihr verwurzelt / atmen / alle Gestalten / luftigen Zusammenhang“.
(Rose Ausländer)
Was ist Farbe? Die meisten Menschen halten schon die Frage für seltsam und überflüssig. Eine Farbe ist eine Farbe ist eine Farbe. Sonst nichts. Rot ist rot, Blau ist blau und so weiter. Farben werden für einen feststehenden Zustand gehalten, an ein Material gebunden, das man zugleich mit den Händen spüren kann. Die Wahrnehmung wird dabei gewöhnlich auf einen funktionalen Mechanismus verkürzt. So wird die Wirkung einer Farbe oder eines Zusammenspiels von Farben gewöhnlich als ein konstantes Ereignis angesehen, allenfalls abhängig von der Stimmung eines Menschen, indem etwa ein Grau einem Menschen bei guter Laune anders erscheint als bei schlechter Stimmung. Aber ansonsten ist ein Grau einfach ein Grau, nichts weiter.
Bei Künstlerin Antje Hovermann fängt die Sache da allerdings erst an. Grau ist für sie eine phantastische Farbe, zeigen sich darin doch wie in keiner anderen Farbe die unendlichen Nuancen des Übergangs. Für Hovermann ist Farbe grundsätzlich kein feststehendes Ereignis, sondern ein offener Zustand, ein mehr oder weniger deutlicher Hauch, eine unendliche Schwingung, ein ständiges Flirren. Genauer gesagt: ein Prozess, der keinen Anfang und kein Ende hat. Farbe ist Energie, weiß die in Köln lebende Malerin. Zwar ist sie, wenn es sich nicht gerade um eine Luftspiegelung handelt, auf einen Bildträger aufgetragen und somit ein sinnlich materiales Element. Doch zugleich ist sie ein Phänomen, das sich lediglich aus der Berührung des Lichtes ergibt. Eine Farbe erscheint am Morgen anders als am Abend, in der Dämmerung anders als im grellen Mittagslicht. Angestrahlt von der Sonne ist die Farbe eine andere als im Schein einer Kerze oder einer hellen Neonröhre. Und dann ist da noch der Eindruck des Betrachters im Augenblick der Wahrnehmung, ein jeweils besonderer Moment der Anschauung: ein aufmerksamer oder ein beiläufiger Blick, ein Moment der Ruhe und Konzentration oder in der Flüchtigkeit einer plötzlichen Drehung, die nicht mehr als ein Windhauch für die Augen ist. Es besteht kein Zweifel: Farbe ist keineswegs nur ein materielles Ereignis, das sich greifen und wiederholen lässt. Farbe ist auch ein immaterielles Phänomen: ungreifbar in ihrer schwingenden Energie, mysteriös wie das Wirken Gottes oder des Universums. Farbe ist eine Tatsache und eine Täuschung, ihre Wahrnehmung ist ein reizphysiologischer Vorgang und ein unerklärlicher Zauber zugleich.
Antje Hovermann will mit ihren Bildern dafür sorgen, dass das Geheimnis der Farben und Formen bewahrt und respektiert wird. Vor allem das der Farben. Das Zusammenspiel von Licht und Farben ist schon lange eine Domäne der abendländischen Kunst gewesen. Spätestens seit Maler wie Caravaggio, Rembrandt oder Georges de La Tour, die das Licht auf ganz besondere Weise auf der Leinwand sichtbar zu machen wussten, es zum Ereignis ihrer Gemälde machten. Nachdem in der Malerei zuvor nur die Farbe gezählt hatte, brachten sie, als Forscher und Magier in einer Person, mit behutsam entschlossenen Pinselstrichen die Wirkung des Lichts malerisch zu Bewusstsein. Etwas ist nicht einfach da; es erscheint in einem bestimmten Licht.
Schon als Kind hat Hovermann das Phänomen der Farbe an der Grenze zur Auflösung fasziniert. Wie es manchmal zu sehen ist, wenn die Blätter der Bäume so vom Sonnenlicht durchflutet sind, dass man nicht mehr klar erkennen kann, wo das Grün des einen Blattes aufhört und das andere beginnt. Oder wenn die Sonne so heiß ist, dass die Landschaft zu einem gelben, staubigen Flirren wird, und die Erde ins Schweben gerät. Oder wenn man nach Stunden im grellen Licht des Tages plötzlich in einen dunklen Raum tritt und die Helligkeit der zuvor gesehenen Außenwelt ein farbig-verschwommenes Nachbild erzeugt, in dem das Äußere und das Innere für einen kurzen Moment ununterscheidbar werden. Eindrücke, die so kurz und fein sind, das man sie im erlebten Moment kaum bemerkt. Hovermann ist keine Entdeckerin im Feld der frei fließenden Farben. Sie ist keine Spielerin mit unverhofften Drehungen und Wendungen. Sie ist nicht einmal auf etwas Neues aus, wenn man damit den zwanghaften Hang der künstlerischen Avantgarde zur Erfindung nie gesehener Weltanschauungen meint. Vielmehr spürt sie mit den Farben ihren feinsten Wahrnehmungen und Empfindungen nach. Sie versucht, die kurzen Momente festzuhalten, in denen sie beim Blick auf die flirrende Flüchtigkeit der Farbe(n) das „Gesetz der Welt“ erkannt hat. Und sie will malerisch der verblüffenden Intensität auf der Spur bleiben, die sie mit solch kurzen Momente einer „wahren“ Empfindung verbindet. Sie weiß, dass gegenüber derart feinen Phänomenen und flüchtigen Erscheinungen mit raschen deutlichen Pinselhieben nicht beizukommen ist. Ihre Entschlossenheit im Umgang mit der Farbe ist von anderer Art: zurückhaltender, behutsamer, geduldiger und zugleich beharrlicher.
Tatsächlich ist die Zurücknahme das Auffallendste ihrer Bilder. Der große blaue Kreis, der sich gerade noch mit größter Deutlichkeit vor Augen abzeichnete, entzieht sich Sekunden später bereits. Man ist sich nicht sicher, was man sieht. Man weiß nicht einmal, wo der blaue Kreis aufhört, und wo er anfängt, weil seine Grenze verschwommen ist und sich in einer Art blauem Hauch verliert. Im Mittelpunkt ihrer größten Verdichtung, im Zentrum des Bildes, ist die Farbe ganz präsent. Leuchtend wie der Himmel in seiner unendlichen Weite. Und leuchtend wie das Wasser in seiner größten undurchdringlichen Klarheit. Doch der Kreis zerfasert, löst sich zu den Rändern hin auf, wo seine Wirkung nur noch ein feiner Nebel ist, und das Blau wie Gas in die Luft entweicht und sich verflüchtigt. Die Farbe ist nur ein Hauch auf diesen „Kreisbildern“ von Antje Hovermann. Alles ist nur ein Hauch: so die Farben, so das Leben. Aus unzähligen feinen Lasurschichten von Aquarellfarbe hat Hovermann diese Bilder geschaffen, zweihundert Schichten übereinander, vielleicht eine mehr oder weniger. Es ist ein langwieriger Malprozess, der viel Ausdauer und viel Geduld erfordert. Die Farbe soll als Energie erscheinen und sich von der Materialität des Bildträgers lösen. Die Farbe soll schweben, soll Schwingung sein. Um diesen Eindruck noch zu verstärken, malt Hovermann auf halbtransparentem Flies. Ohnehin ist Malen nicht das richtige Wort für das, was sie macht: sie haucht die Farben auf das feine Papier. Sie lässt einen Farbeindruck wachsen wie eine Fata Morgana in der Wüste entsteht.
Um zu zeigen, wie sich ein Farbton verwandelt, hat Hovermann Serien von Bildern gemalt. Bild für Bild geht sie durch den Farbkreis, in einer Farbe nach der anderen. Es geht um feinste Abstufungen. Anders gesagt: es geht um das Gespür für und die Anerkennung der Wirksamkeit der feinsten Unterschiede. Im Laufe der Bilder einer Sequenz wird die Farbe immer mehr zurückgenommen. Im letzten Bild sieht man schließlich fast gar nichts mehr. Dass man auf den ersten Blick nichts erkennt, heißt allerdings nicht, dass nichts da wäre. Man muss ganz genau hinsehen. Mit größter Aufmerksamkeit und zugleich meditativ. Und dann, wenn es gelingt, in der Anschauung einer schwebenden Farbe zu ruhen, entfaltet sie ihre größte Wirkung. Dann sieht man auch noch etwas, wo man scheinbar nichts sieht. Hovermanns Bilder schärfen die Sinne aufs Äußerste. Sie schärfen den Blick für die feinen Nuancen. Und man ahnt plötzlich, dass die Wirkungen des Lebens viel häufiger von Nuancen abhängen als wir glauben. Das Glück ist eine Nuance. Das Scheitern ist eine Nuance. Unser tägliches Befinden hängt an Nuancen. Unser Leben wird bestimmt von Nuancen.
Dass die 1964 in Solingen geborene Antje Hovermann einmal vor langer Zeit als Schülerin im Jugendalter mit surrealistischen Szenen mit dem Malen begann, ist ihrer Kunst nicht mehr anzusehen. Andererseits: auch den Surrealistischen ging es um das Geheimnis der Welt, der äußeren und der inneren vor allem, und der unauflösbaren Wechselbeziehung von beiden. Während des Kunststudiums an der Akademie in Düsseldorf wurde ihr bewusst, dass Licht ihr Thema ist. So fiel Hovermann auf, dass sie im Grunde nur ihre Empfindung von Licht malen wollte, und sie die „Geschichten„, die sie bis dahin gemalt hatte, auch weglassen konnte. Damals war allerdings gerade eine Zeit der Geschichten, eine neue malerische Tendenz der Figürlichkeit entstand, die nach langen Jahren einer von Abstraktion, Theorie und Konzepten bestimmten Kunst eine Wende zurück zur „Lust an der gegenständlichen Malerei“ vollzog. Es war die Zeit der sogenannten „Neuen Wilden“: Maler, die mit ironischen figürlichen Motiven und wilden Farbgesten auf zumeist großformatigen Leinwänden die Bildsprache des grellen Effekts zum Leitmotiv der zeitgenössischen Kunst machten. Hovermann hatte dagegen damals immer nur kleine Formate gemalt und gezeichnet, zumeist in der Größe eines Din-A-4-Blattes. Sie hatte während dieser Zeit mit der Farbe experimentiert. Sie hatte die Farben geschüttet und geschmiert, gegeneinander gesetzt und miteinander vermischt, und die Wirkungen im Zusammenspiel von Farben erforscht. Sie interessierte sich besonders für das Verhältnis von Farben. Wie Farben, wenn sie nebeneinander liegen, ihre Wirkung gegenseitig steigern. Und wie Farben, wenn sie einander überlagern, sich gegenseitig fressen, sich ineinander auflösen und in einem undurchsichtigen Grau verschwimmen. „Man muss vorsichtig sein in der Berührung der Farben“, sagt Hovermann. Das hat sie damals begriffen, und seitdem sucht sie in ihrer Malerei die feinen Nuancen in den Berührungen der Farben. Vor allem mit dem Blick für die Übergänge.
Die Form, von der sie in ihren jungen Malerinnen-Jahren ausgegangen war, hatte Hovermann sehr bald immer weiter reduziert. Bis zu dem Punkt, an dem schließlich die Form überhaupt nicht mehr wichtig war. Ihre Kreise, in denen sich die Farbe zeigt, sind tatsächlich keine Formen mehr, sondern nur noch Konzentrations-Punkte. Sie wirken wie Ausschnitte aus einem großen Ganzen, in dem alles in ständiger Bewegung und Verwandlung ist, und Verdichtungen und Verflüchtigungen, Gestaltwerdungen und Gestaltauflösungen sich unaufhörlich mit atemberaubender Geschwindigkeit ergeben. Ungefähr so wie das Geschehen am Himmel, wo Wolken kommen und gehen, eine sich aus der anderen ergibt; sie entstehen und lösen sich auf, sind ganz deutlich oder ein verschwommenes Geschiebe, und immer wieder ist überhaupt nichts zu sehen. Dass Hovermann von der Akademie in Düsseldorf an die Fachhochschule ‚Freie Kunststudienstätte Ottersberg’ wechselte, war nur folgerichtig. Neben der freien Kunst studierte sie dort Kunsttherapie. Dieser Schritt sollte ihre weitere künstlerische Tätigkeit maßgeblich bestimmen. Er bestärkte ihre Ansicht, in der Malerei mindestens ebenso sehr einen unbewussten wie einen bewusst-absichtsvollen Prozess zu sehen. Auf der einen Seite steht das klare Konzept im Umgang mit den Farben. Auf der anderen Seite steht jener offene Erkundungsprozess, indem das Seelische beim Malen mehr zu sich selber kommt, während es sich tatsächlich dabei verliert. Solche Parodoxien sind grundlegend für ihren künstlerischen Prozess.
Eine malerische Herausforderung bestand für Hoverman darin, die Farbe so erscheinen zu lassen, als ob sie nicht gemalt wäre. Wo andere Maler, gerade auch die sogenannten „Monochromen“, Wert auf die malerische Spur im Auftrag der Farbe legen, will sie die Farbe von der individuellen Handschrift des Malenden lösen. Die Farbe soll einfach da sein, ohne direkten Verweis auf etwas anderes. Die Farbe soll da sein, aber nicht erklärbar sein. Etwas, das vorhanden ist, aber nicht greifbar. „Was ist wahr?“ Diese Frage wurde für eine Weile zum Leitmotiv in Hovermanns künstlerischer Arbeit. Oder sollte man besser fragen: „Was ist wirklich?“ Der komplizierte Zusammenhang von Farbe und Materie wurde ebenso zu ihrem Thema wie das mysteriöse Wirkungsfeld des Immateriellen. Hovermanns Kunststück besteht darin, die Wirkung ihrer Malerei von der Materialität der Farbe abzulösen, indem aus den faktisch vorhandenen Bildern Farbwahrnehmungen hervorgehen, die materiell nicht zu beweisen sind. Wo sind diese Bilder? In welchem Raum befinden sie sich? Im Raum hinter dem Auge? Oder doch im Raum davor? In einem Ort, der jenseits von Raum und Zeit ist? Wie entstehen überhaupt Wirkungen? Und was sind überhaupt Bilder? Welche Bedeutung haben Bilder für unser Leben, die äußeren und die inneren? Worin besteht der Unterschied zwischen dem, was „wirklich“ da ist und dem, was wir „wirklich“ sehen? Und wie hängt beides zusammen?
Im Fortgang ihrer Farberkundungen stieß Hovermann auch auf das Problem der Begrenzung des Bildes. Gerade im Blick auf die Werke der monochromen Malerei beschäftigte sie dieses Thema. Im Geviert des Rechteckes oder Quadrates einer Leinwand gerät die monochrom aufgetragene Farbe, die nichts als Farbe sein will, nahezu unweigerlich in ein (Be-)Deutungsfeld. Der Bild-Rand konstruiert eine abgegrenzte Fläche, eine Mauer oder einen Raum. Die durch den Bildrahmen scharf begrenzte Farbe wird als ein komprimierter Block aus allem übrigen deutlich herausgehoben. Genau diese Begrenzung will Hovermann durchbrechen. Farbe hat für sie keine Begrenzung. Farbe ist für sie eine frei schweifende Energie, die das ganze Universum durchdringt. So sollen die Bilder, die Hovermann malt, über die Grenze hinausdrängen. Ihr Ideal ist nicht nur die Farbe ohne Form, sondern auch die Farbe ohne Grenze. Hovermann spricht gelegentlich vom „reinen Farblicht“, wohl wissend, dass Worte das nicht bezeichnen können, das sie meint. „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Aber das Unaussprechliche: es zeigt sich.“ So oder so ähnlich formulierte es der Philosoph Wittgenstein. Hovermann weiß, dass sie nicht vermeiden kann, die Farbe zu materialisieren, solange sie Malerin bleiben und nicht in die Physik wechseln und Kunst aus Lichtstrahlen inszenieren will. Wir zwingen die Farben in ein Bild, wenn wir sie in Formen und Formate bringen. Hovermann will dagegen die Farbe in ihrem eigenen Bilde zeigen, das plötzlich daherschwebt wie ein Windhauch, der aus dem Nichts zu kommen scheint und dort auch wieder verschwindet.
Für Hovermann soll das Bild nur die Farbe sein, nichts sonst. „So wie Farben sich im Licht verhalten, spiegeln sich spirituelle Wahrheiten darin“, sagt Hovermann. Sie will eine Farbwirkung, bei der nicht die Präsenz der gemalten Farbe im Vordergrund steht. Das unterscheidet sie grundlegend von vielen der sogenannten „Radikalen Maler“. Auch sie wollen die malerische Wirkung der Farbe jenseits jeder festgelegten Absicht und konkreten Bedeutung zum Schwingen bringen. Auch sie verstehen den Farbraum als einen Empfindungsraum. Aber die Radikalität von Antje Hovermann geht noch einen Schritt weiter. Sie will zeigen, dass es neben der Körperlichkeit der Farbe noch eine andere Farbqualität gibt. Sie will die Farbe malerisch von der körperlichen Welt loslösen. Sie will zeigen, dass die Qualität der Farbe nicht an einen Gegenstand gebunden ist, nicht einmal an eine Leinwand. Farbe ist für sie eine Essenz, die in den unendlichen Energieströmen des Universums bisweilen sichtbar wird. Allein das, was in der Farbe lebt, soll in ihren Bildern wahrnehmbar werden, und nicht die individuelle Handschrift einer bestimmten Künstlerin im Umgang mit der Farbe. Das Ich der Künstlerin ist in Hovermanns malerischen Ansatz nicht wichtig. Sie sieht sich in ihrer Tätigkeit als Malerin vielmehr wie ein Gärtnerin, die das, was längst da ist, pflegt, und die dafür sorgt, dass es ins Leben kommt. Ihr (malerisches)Ideal besteht darin, sich behutsam und möglichst unscheinbar in das Phänomen der Farbigkeit und der Leichtigkeit des Lebens einzuschmiegen. In der letzten Konsequenz hieße das, die Farbpigmente nicht mehr aufs Papier zu bringen, sondern nur noch in die Luft zu streuen. Das wäre ein Bild, das für einen Moment alles wäre. Ein kurzes farbiges Aufmerken, das sich sogleich wieder verflüchtigte. Das Beständigste im Leben ist seine Flüchtigkeit - auch das ist eine Einsicht, die in den Bildern Hovermanns aufscheint.
Aber wie die Farberscheinungen sich ständig verwandeln, so verwandelte sich auch Hovermanns Bildprinzip : ohne ihr bewusstes Zutun malte sie plötzlich andere Bilder, von denen sie vorher nicht einmal gewusst hatte, dass sie in ihr steckten. So wie die surreal- erzählerische Phase ihres Malens schließlich aufgehört hatte, hörte sie eines Tages mit den gehauchten Farbigkeiten auf. Ein paar Jahre ist das jetzt her. Vielleicht ist die Flüchtigkeit von allem so schwer auszuhalten, dass es nahezu unausweichlich war, nach soviel ungreifbarem Hauch wieder zur körperlichen Selbstvergewisserung zurückzukommen. Nach Jahren, in denen ihr Form und Gegenstand beim Malen nicht wesentlich waren, war Antje Hovermann erstaunt, als das Malen und Zeichnen in ihren Skizzenbüchern plötzlich seltsame Formgebilde hervorbrachte. Ohne jede Absicht, als seien sie direkt aus dem Unbewussten dort aufgetaucht, in einer Art undurchsichtiger Automatik, wie die Surrealisten sie einst als erste für die Kunst entdeckt hatten. Die namenlosen Gestaltandeutungen, die sie dort sah, erschienen sie wie die Bilder einer Fremden. Woher kommen sie, wenn nicht aus den unbekannten seelischen Tiefen unterhalb des bewussten Wissens. In einem Moment lassen sich darin pflanzliche Phantasien erkennen, in einem anderen mysteriöse Leib-Perspektiven. Fremd-vertraut erscheinen diese Formen, die trotz größter sinnlicher Präsenz nicht zu benennen sind. Mitten im Erfahrungsfeld des Übergangs angesiedelt sind es Gestalten, die gerade erst zu wachsen scheinen, während sie bereits vom Hauch des Flüchtigen durchweht werden. Möglicherweise sind es auch Gestalten, die sich in der rätselhaften Drehung einer Verwandlung befinden; genau in dem Zustand, in dem die alte Form nicht mehr genau zu erkennen ist und schon nicht mehr gilt, die neue Form aber auch noch nicht.
Zweifellos betonen diese zeichnerischen Malereien oder malerischen Zeichnungen stärker die eigene Spur der Künstlerin als die gehauchten Kreisbilder zuvor. Hovermann gibt sich darin in ihrer ganzen sinnlichen Lust zu erkennen, ohne dass sie deswegen ihr Geheimnis preisgäbe. Die Phantasien, die sich aus diesen Darstellungen ergeben, sind vielgestaltig wie die Schatten, die durch unsere Träume huschen. Mit der rasanten Geschwindigkeit einer Fledermaus oder der kriechenden Langsamkeit eines Wurms, ohne dass wir wüssten, woher sie kommen und aus welchen Erinnerungen und Elementen sie sich zusammensetzten. Sexuelles lodert auf. Tückische Wünsche sprießen wie unbekannte Gräser aus Ritzen. Ängste flattern auf wie aufgestörte Vögel. Sind es körperliche Wucherungen? Oder unbekannte pflanzliche Sprossformen, uterusähnliche Ausstülpungen, fischige Mutationen oder undurchsichtige Ausbruchsformen? Oder sind es winzige molekulare Strukturen, vergrößert mit mikroskopisch-magischen Augen? Es sind fraglos Formen, in denen wir leben und mit denen wir leben, die uns umgeben, die in uns stecken. Formen, die unterhalb unseres Bewusstseins unser Leben bestimmen. Sie scheinen zu schweben, durch den Raum zu fliegen. Sie scheinen zu zittern und sich zu winden, durchzuckt von unsichtbaren Kräften. Jedenfalls sind sie herausgelöst aus dem Zusammenhang, in dem sie gewöhnlich stehen. Meistens genügt Hovermann eine einzige Form auf dem Blatt Papier. Alles andere wäre zu viel. Und dennoch ist die Bezugsgröße dieser herausgelösten seltsamen Gebilde zweifellos die gesamte materiale und immaterielle Wirklichkeit. Man weiß nicht, wo genau sie herkommen, und ob sie möglicherweise nur auf diesen Bildern existieren. Man weiß überhaupt nichts Genaues, und genau das wird plötzlich zur Gewissheit.
Keinerlei bewusste Absicht hat über diese namenlosen Formen entschieden. Allein das Malmaterial, der Stift oder die Farbe, hat für den ersten Impuls gesorgt. Von dort aus hat sich alles Weitere ergeben. Mit Intuition. Auf dem Weg des allmählichen Verfertigens einer Form beim Malen und Zeichnen. Für Hovermann ist dieses Vorgehen ein Schritt in eine größere malerische Leichtigkeit. Und Freiheit. Die Farben kommen zu lassen, ist einfühlsamer als sie mit jeder Nuance kontrollieren zu wollen. „Ich schaue, was mich anzieht. Ich habe keine Idee, warum das so ist“, sagt Hovermann. Sie malt kein Bild, sondern sie malt eine Tendenz, die mitten aus dem unendlichen Fluss des Möglichen kommt, der zugleich der unendliche Fluss des Wirklichen ist. Jedes dieser Bilder ist von enormer Flüchtigkeit, und in jedem Bild geht es zugleich immer ums Ganze. Andere Einfälle, die sich einstellen: die Einzigartigkeit des Zufalls, die unabwendbare Macht des Drängenden, der Fintenreichtum des Ausdrucksverlangens. Hovermann weiß selber nicht, was geschieht, während diese zuvor nie gesehene Gebilde auf dem Papier langsam Gestalt annehmen. Sie entwickeln sich ohne jeden Hintergedanken und ohne Konzept. Ohne Vorsatz (außer dem einen, ein Bild zu malen) nimmt sie den Stift oder den in Farbe getauchten Pinsel in die Hand und wartet, dass etwas passiert. Und es passiert tatsächlich immer etwas. Sie lässt es geschehen. Die Formen entstehen wie Formen in der Natur wachsen. Und so ist jedes Bild auch ein Wachstumsbild. Es sind keine bekannten Formen und doch wirken sie seltsam vertraut. Ihre Fremdheit bezeichnet zugleich ihre Vertrautheit. Es sind Formen, die eine klare Begrenzung nach außen haben, nach innen jedoch unklar sind. Diffus, mit vielen feinen Nuancen. Es sind weiche, runde Formen. Und es ist zu spüren, dass sie einem organischen Bauplan folgen. Einem Bauplan, den nicht nur die Malerin, sondern wir alle in uns tragen. Und es sind erotische Formen, so dass man unweigerlich zu dem Schluss kommt, organische Formen und erotische Formen seien ein- und dasselbe.
Hatten die luftigen Bilder von Antje Hovermann die Tatsache, dass wir zu allererst mit einem Körper in der Welt stehen, beinahe zum Vergessen gebracht, sind diese gestalthaften Bilder ganz in der Körperlichkeit unserer Existenz verwurzelt. Auch die Farben, die sie darin verwendet, bestärken das. Zum Teil hat sie Farben benutzt, die gewöhnlich in der Malerei „tabu“ sind, z.B. Rosa und Gold . Hovermann hat sich selber von diesen Farben überraschen lassen. Hatte sie viele Jahre lang eine Malerei der Entkörperlichung geschaffen, bringen ihre Bilder der letzten Zeit zum Ausdruck, dass der Körper der Anfang und das Ende unseres Lebens ist. Die gemalten Formen leuchten in ihrer Rätselhaftigkeit wie blutiges Fleisch. Sie erinnern an vaginale Formen, die unweigerlich den Beginn des Lebens ins Bewusstsein bringen. Sie geben den Blick frei auf das, was im Geburtskanal geschieht, machen unsere frühesten Erinnerungen sichtbar. Andere Formen sind flattrig oder feurig, aufgequollen oder schlüpfrig. Wir können nicht anders, als nach Sinn und Erklärungen zu fragen und haben doch zugleich das Gefühl, dass wir es mit Unerklärlichem zu tun haben. Viele Formen erscheinen sanft und harmonisch, andere wirken unheimlich, erschreckend und beinahe gruselig. Vor allem in der Zerfaserung, in der Verletzung, die sie andeuten. So sehr die Formen fest umrissen sind, so vage, unbestimmt und unberechenbar bleiben sie. Es sind Formen in der beginnenden Gestaltwerdung oder im Prozess der Auflösung einer Gestalt. Es sind Formen im Übergang, Übergangsgestalten. Die Leichtigkeit der Formwerdung, die sich in ihnen abzeichnet, entspricht der ganzen Unruhe, mit der das Leben unaufhörlich in Bewegung ist und eine Verwandlung nach der anderen hervorbringt und vergeht. Vorangetrieben durch ein unstillbares Drängen, die unendliche Zirkulation des Begehrens, das ewige Fließen der Energien.
Jede einzelne dieser gestalthaften Formen, die Hovermann aufs Papier bringt, waren für die Künstlerin eine Überraschung. Um es noch einmal zu sagen: sie hat vorher nicht gewusst, dass sie in ihr steckten. Jedes Bild ist für sie auch ein Weg zu sich selber. „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg“, erklärte der romantische Dichter Novalis. Man ahnt vor Hovermanns Bildern, dass die Formen im Innern des Körpers und die Formen im Innern der Erde viele Entsprechungen aufweisen, und dass die Prozesse des Seelischen weit über den Menschen hinausdrängen, und überhaupt die innere und die äußere Welt nicht voneinander zu trennen sind. Oder, wie der Dichter Goethe diesen Zusammenhang beschrieb: „Nichts ist innen, nichts ist außen, denn was drinnen, dass ist draußen“. Eine andere Erkenntnis, die aus Hovermanns Bildern wächst: dass in jeder kleinsten Kleinigkeit immer das Ganze repräsentiert ist. Das heißt: sie verweisen auf das Ganze, aber sie fassen es nicht. Das Ganze ist zu groß, zu kompliziert für uns Menschen. Und daher gilt, dass wir Ehrfurcht haben sollten vor dem großen Ganzen, und wir uns nicht anmaßen sollten, die Wahrheit zu kennen. Es ist viel komplexer als die aufgeklärte Vernunft erfassen kann, und es ist zugleich viel einfacher. Tatsächlich bildet die Ehrfurcht vor dem großen Ganzen die Grundlage für Hovermanns Kunst. Es gibt darin keinen Anfang und kein Ende, und es gibt darin kein Ziel.
„Wenn ich beim Malen glücklich bin, dann fühlt es sich so an, als hätte ich etwas gefunden“, beschreibt Antje Hovermann den künstlerischen Prozess, in dem zwischen Unruhe und Leichtigkeit, Suche und Selbstvergessenheit Momente des Glücks entstehen. Auch das gehört zu ihrer Kunst, ist ein Teil ihres Antriebs. Hovermann weiß, dass man es nicht erzwingen kann: weder ein Bild noch das Glück. Sie will in der Kunst kein Ziel verfolgen und nichts kalkulieren. Aber sie will finden und sich einschmiegen in den unaufhörlichen Fluss der Verwandlung, der ewig ist. Malen ist Verwandlung. Das hat sie mit jedem Bild gespürt, das sie je gemalt oder gezeichnet hat. Die Verwandlung jener Verfassung, die man Alltagserfahrung nennt. Die Verwandlung des Bildes, das man von sich selber hat. Und die Verwandlung der Welt, indem man diese aus immer anderen Perspektiven betrachtet. Hovermann begreift ihre Bilder als einen Prozess, in dem eine Form in eine andere überläuft, aus der anderen hervorgeht, sich in ihr fortsetzt. So wie ein Bild aus dem anderen, eine Zeichnung aus der anderen. Daher hört das Malen und Zeichnen für sie auch nie auf, selbst wenn es kurze Phase des Atemholens gibt. Das Schönste ist für sie beim Malen, nicht etwas zu wollen, sondern zuzulassen, dass sich etwas ereignet.
Für den Augenblick der Entstehung oder der Betrachtung eines Bildes spürt man den Sinn des Sinnlosen. Es ist eine Einsicht, die nur gehaucht ist, so wie Hovermanns Bilder entweder gehaucht sind oder eine vage Gestalt in der Drehung darstellen. Man könnte ihre Bilder noch am ehesten mit der Flüchtigkeit von Wolken am Himmel vergleichen. Sie sind da, aber nicht fassbar. Man glaubt, sie haben eine Gestalt, doch die hat sich im nächsten Augenblick bereits verwandelt oder sogar ganz aufgelöst. Da gibt es diese Geschichte, dass ein einziger Flügelschlag eines Schmetterlings einen Wirbelsturm auslösen kann. Es klingt unwahrscheinlich, dass die ganz kleinen Dinge von gewaltiger Wirkung sind. Winzige Staubkörner zum Beispiel. Oder die vielfach verdünnte Flüssigkeit eines homöopathischen Heilmittels. Vor allem die Wirksamkeit des Unsichtbaren. Etwas, das scheinbar nicht da ist, wie das Licht, die Macht energetischer Ströme oder die Unruhe einer verdrängten Erinnerung. Oder wie der unsichtbare Atem der Erde oder die Schwingung des Universums, die niemand sieht und die doch alles durchdringt, egal ob man sie spürt oder nicht, mit ihr in Einklang ist oder ihr zuwiderläuft. Wer Antje Hovermanns Kunst betrachtet, kann sich diese Unsichtbarkeiten plötzlich vorstellen. Sie richtet mit ihren Bildern den Blick gleichermaßen auf die mythischen Anfänge unserer Kultur wie auf die moderne Ungewissheit. Dass eine Wahrnehmung, die zu sehr an fest umrissenen Motiven und ihrem Sinn klebt, diesen gerade deswegen aus dem Gespür verliert, lautet ihr zarter Hinweis. Und überhaupt plädiert sie künstlerisch dafür, das Leben zu erkunden wie ein Seiltänzer Himmel und Erde: im Bewusstsein größter Unsicherheit und ganz entschlossen, mit standfesten Schritten und zugleich schwebend.
Köln-Höhenhaus,
im Mai und Juni 2008